von Werner Wagner
Der mit 188 Einwohnern kleinste Butzbacher Stadtteil stellt sowohl in seiner Entstehung wie in seiner Lage ein für unseren Raum einmaliges Phänomen dar. Nach 1945 standen alle Orte vor dem Problem, wie die Tausenden von Ausgebombten, Heimatvertriebenen und Flüchtlinge aus dem Osten untergebracht werden sollten. Meist wurden sie notdürftig in den Dörfern zwangseinquartiert, bis man dann in den 50er Jahren entsprechende Wohnsiedlungen erbaute (vgl. Waldsiedlung, Schrenzerhang, Windhof etc.).
Da auch in Philippseck die Wohnungsnot sehr groß war, plante Dr. Rudolf Friedrich zusammen mit Bekannten schon im Winter 1946 eine neue Wohnsiedlung für Heimatvertriebene mitten im Wald, nachdem die Gemeindevertretung von Münster ihre Zustimmung gegeben hatte. So wurde am 6. September 1947 in Münster eine gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft mit 39 Mitgliedern von Heimatvertriebenen vor allem aus dem Sudetenland gegründet, von denen sich nachher 20 aktiv an den Baumaßnahmen beteiligten. Sie löste sich 1955 wieder auf. Die neue Siedlung sollte direkt neben dem ehemaligen NS-Hauptquartier Adlerhorst an einem Südhang im Wald angelegt werden, das die Amerikaner gerade zu sprengen versuchten. 1948 wurden 25 Doppelhäuser im Grenzgebiet von Münster, Fauerbach und Langenhain-Ziegenberg in drei Bauabschnitten geplant. Bis 1950 wurden 11 Doppelhäuser fertig gestellt, das erste war 1949 bezugsfertig.
Die Bedingungen, unter denen gebaut wurde, waren sehr schwierig. Da das Baugebiet nicht durch Wege erschlossen war, musste nach der Rodung des Waldes das gesamte Baumaterial mit Pferdefuhrwerken auf schlammigen Waldwegen antransporiert werden. Erst 1958/59 wurde die 200 m lange Zufahrtsstraße von Münster her asphaltiert und Wiesental verkehrsmäßig erschlossen. Steine und Ziegel wurden anfangs in eigener Fertigung hergestellt. Nachdem es den Amerikanern gelungen war, die Betonbauten des Führerhauptquartieres zu sprengen, wurde der Beton zerkleinert und zu Steinen verarbeitet. Größere Brocken dienten als Bruchsteine zum Bau der Keller. Der Versuch, durch Gründung eines Holzverarbeitungsbetriebes (Sägewerk) Bauholz bereit zu stellen, scheiterte 1961 nach anfänglichen Erfolgen kläglich. Mit Wiesental entstand eine Gemeinde, die ohne wirkliche planungsrechtliche Sicherheit neu aus dem Boden gestampft wurde, deren kommunale Zuordnung anfangs unklar war und die erst später gemarkungs- und verwaltungsmäßig Münster zugeordnet wurde. Wasser musste mit Fässern herbei gefahren werden und erst 1962 wurde die Wasserversorgung durch Anlegen von Tiefbrunnen am Hubertus endgültig gelöst.
Da die meisten Wiesentaler katholisch waren, wurde 1955 die katholische Kapelle St. Elisabeth als Filiale der Lokalkaplanei Fauerbach eingeweiht. In der Anfangszeit wurde das Brot von Langenhain-Ziegenberg nach Wiesental gebracht. Von 1959 bis 1975 versorgte ein kleines Lebensmittelgeschäft die Wiesentaler mit den nötigsten Lebensmitteln. Langsam wurde die Infrastruktur ausgebaut: 1961/62 Bau des Feuerwehrgerätehauses, 1964 eines Kindergartens, neuer Wasseranschluss und Straßenbeleuchtung, 1968 Bebauung des Obernberges. 1951 besuchten 13 Kinder die Schulen der umliegenden Orte, da die Kinderzahl für eine Grundschule nicht ausreichte.
Von 1939 bis Sommer 1940 war bei Langenhain-Ziegenberg das sog. Führerhauptquartier Adlerhorst eingerichtet worden. Das eigentliche Führerhauptquartier allerdings befand sich 2 km von Langenhain-Ziegenberg in einem versteckten Waldtal an der Stelle, wo das heutige Wiesental liegt. Schloss Ziegenberg, Bunkeranlagen, das Fahrbereitschaftshaus (Gutshof in Ziegenberg), Kraftfahrzeughallen sowie weitere militärische Anlagen, die nicht unterirdisch lagen, waren als einfache Wohnhäuser teils mit Bruchsteinmauerwerk so gut getarnt, dass die Amerikaner sie nicht entdeckten. Stattdessen zerstörte die Amerikanische Luftwaffe am 19. März 1945 Schloss Ziegenberg und das Dorf Ziegenberg, wobei 14 Menschen getötet wurden. Hitler selbst weilte vom 11. Dezember 1944 bis 15. Januar 1945 im Adlerhorst.
Mittlerweile sind die großen Schwierigkeiten beim Aufbau des Ortes fast vergessen und nur noch wenige Häuser im Originalzustand erinnern ebenso wie Reste des Adlerhorstes an die Jahre der Not. Wiesental stellt heute eine idyllische, wenn auch etwas abseits gelegene Siedlung im Grünen mit hohem Freizeitwert dar, wobei die Bewohner allerdings zur ihrer Versorgung auf einen Pkw angewiesen sind.
(Aus der 14. Ausgabe der Seniorenzeitung vom März 2009)