Nieder-Weisel, der größte Stadtteil (2.537 Ew.)

von Werner Wagner

Der mit 2492 Ew. größte Butzbach Stadtteil liegt auf einem etwa 180 m hohen, leicht gewellten und fruchtbaren Lößplateau, das sehr günstige Anbaubedingungen für die Landwirtschaft bietet. Der Ort wird 772 als „Wizele“ erstmals im Lorscher Kodex erwähnt, ist aber sicher älter. Der Name wurde wohl als Unterscheidungsmerkmal zum höher gelegenen Hoch-Weisel gewählt. Römer und Franken haben in der Nieder-Weiseler Gemarkung ihre Spuren hinterlassen. Seit dem 13. Jahrhundert gehörte die nördliche Wetterau zum Besitz der Herren von Arnsburg-Münzenberg und Falkenstein. 1337 wird ein „Hof zu Weisel“ genannt, bei dem es sich wohl um den „Edelhof“ (vgl. Hausname „Ellob“), den Wohnsitz von Edelhofleuten an der Oberpforte, handelt. Im Spätmittelalter war Nieder-Weisel mit einem Haingraben mit Graben und Schutzhecke befestigt, in dem sich drei Pforten befanden.

Das Ortsbild wird durch zwei bedeutende Kirchen geprägt: die alte Dorfkirche und die Komturkirche. Die alte Dorfkirche liegt am höchsten Punkt des Ortes auf einem aufgeschütteten Hügel und weist noch heute mit der mächtigen Mauer und dem alten Wehrturm mit Lisenen und figuralem Tierschmuck aus dem 12. Jahrhundert auf eine ehemalige Kirchenbefestigung hin. Im Obergeschoss des Turmes befand sich wahrscheinlich eine Michaelskapelle. Im Langhaus findet man noch romanisches Mauerwerk. Vom 15. bis 17. Jahrhundert wurde das ursprünglich romanische Langhaus umgebaut. Heute bietet die Kirche dem Besucher das Bild eines flachen Saalbaus mit einem Staffelgiebel im Osten, einer barocken Stuckdecke von 1616 mit dem Solms-Hohensolmser-Licher Wappen und einem romanischen Taufbecken.

Die Komturkirche stellt eine der wenigen langschiffigen Doppelkirchen in Deutschland dar. Der einfache spätromanische Bau hat eine Länge von 28 m und eine Breite von etwa 15 m. Durch eine Vorhalle im Westen betritt man den dreischiffigen 7 m hohen Kirchenraum, der im Osten durch drei Apsiden abgeschlossen wird. Über eine Treppe des nördlichen Seitenschiffes kommt man in das flach gedeckte Obergeschoss, das einst als Hospiz für Kranke und Pilger diente, die durch drei heute noch vorhandene Gewölbeöffnungen am Gottesdienst im unteren Kirchenraum teilnehmen konnten. Die Apsis im Obergeschoss erlaubte es, auch direkt vor den Krankenbetten Andachten zu halten. Die Komturkirche zeigt noch heute die Hauptaufgaben des Johanniterordens: die Verkündigung des Wortes Gottes und den Dienst am Kranken und Hilfsbedürftigen.

Der Johanniterorden, um 1100 in Jerusalem während der Kreuzzüge zur Unterstützung und Pflege armer und kranker Pilger entstanden und später auch mit militärischen Aufgaben betraut, hält jahrhundertelang an seinen Zielsetzungen fest. Er wurde zum Spielball im Auf und Ab der Geschichte: Niederlassung auf Rhodos von 1306 bis 1522, die Johanniter auf Malta von 1530 bis 1798, die deutsche Zunge vom 13. Jahrhundert bis 1806, die Balley Brandenburg von den Anfängen bis 1811 und die Malteser und Johanniter im 19. und 20. Jahrhundert.

Nachdem die Johanniter ihre Aufgabe in Palästina, die Eroberung und Befreiung von Jerusalem, nicht mehr erfüllen konnten, spielten sie in Europa eine ähnliche Rolle. Für ihre Verdienste um das Heilige Land erhielten sie zahlreiche Schenkungen, vor allem Land, in Europa und wurden dadurch reich. So wurde die Johanniter-Kommende auch in Nieder-Weisel der bedeutendste Grundherr.

Bis etwa 1800 verpachtete die Kommende ihr Land recht billig an die Nieder-Weiseler Bauern, die sich so ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Als unter Napoleon 1809 die Johanniter-Kommende aufgelöst und die Ländereien 1812 an den Freiherrn von Wiesenhütten aus Frankfurt verkauft wurden, der Herrn Draudt als Pächter auf der neu geschaffenen Domäne einsetzte, verloren die Nieder-Weiseler ihr billiges Pachtland, das ihre Existenz etwa 600 Jahre gesichert hatte. Im 19. Jahrhundert lebten die meisten Nieder-Weiseler noch von der Landwirtschaft. Für die Einwohner stellte diese Entwicklung eine Katastrophe dar. Lebten 1849 noch 2300 Bürger in Nieder-Weisel, so ging die Einwohnerzahl bis 1875 auf etwa 1300 zurück. Die Nieder-Weiseler, aber auch die Bewohner der benachbarten armen Taunusgemeinden, fanden zu Hause kein Auskommen mehr, zogen über Land und verkauften selbst hergestellte Holzgegenstände (z. B. Fliegenwedel) oder wanderten nach Amerika (Hurdy Gurdy), Australien (Goldfelder) oder Paris (Straßenkehrer) aus.

In dieser Situation übernahm Pfarrer Wilhelm Kayser (1826-1890) 1857 die Pfarrstelle in Nieder-Weisel. Er kämpfte gegen Landgängerei und Mädchenhandel und machte 1861 eine schriftliche Eingabe an das großherzogliche Ministerium in Darmstadt. Nach Meinung von Pfarrer Kayser ging Bürgermeister Haub zu lasch gegen den Mädchenhandel vor. Kayser stritt sich auch mit dem Gemeinderat um die Komturkirche, der diese 1866 auf Abriss versteigern wollte, weil das Untergeschoss als Stall und das Obergeschoss als Scheune genutzt wurden. Kayser erhob Einspruch gegen diese Pläne.

1868 übernahm der hessische Staat durch Schenkung des Großherzogs offiziell die Kirche und übergab sie dem Johanniterorden. Er erwarb 1869 neben der Kirche noch ein Haus (Herrenhaus), in dem sich 1870/71 ein Lazarett und danach bis 1973 ein Krankenhaus befand.

Heute stellt die Komturkirche die einzige erhaltene Kirche des Ordens dar. Hier treffen sich die Ordensritter und hier findet auch der traditionelle Ritterschlag statt. Das Herrenhaus ist Sitz der Geschäftstelle des Landesverbandes Hessen, Rheinland-Pfalz und Saar der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.

Unter Mitwirkung von Pfarrer Kayser wurden 1862 die Ländereien des „Konterhofes“ (600 Morgen) von 18 Nieder-Weiselern für 250 000 Gulden zurückgekauft. Dieses Geld stammte größtenteils von den australischen Goldfeldern, wo sich in Ballarat (Victoria) eine ganze „Kolonie“ Nieder-Weiseler befand, was sich noch heute in vielfältigen verwandtschaftlichen Beziehungen zeigt. Die Ernten der 60er Jahre des 19. Jh. fielen gut aus, so dass die Nieder-Weiseler Bauern ihre Zahlungen pünktlich leisten konnten. Ein Großbrand von 1761 vernichtete 200 Häuser ganz, 30 halb.

1850 veränderte sich das Dorfbild nach dem Bau der der Main-Weser-Bahn, als um 1900 das große Viertel der Bahnhofstraße mit Garten- und Mauerfeldstraße entstand, wo große Bauernhofreiten mit schönen Wohngebäuden zu finden sind. Eine Schule bestand schon im 16. Jahrhundert . Bei hoher Schülerzahl war Unterricht schwer zu halten, zumal den Lehrern oft jede Vorbildung fehlte. Die älteste Schule stand auf dem alten Kirchhof. Am Marktplatz wurde 1887 eine neue Schule mit zwei Klassen errichtet, während im Untergeschoss die Bürgermeisterei untergebracht war. Die heutige Grundschule befindet sich ebenso wie das Dorfgemeinschaftshaus östlich des alten Ortskernes in einem Neubaugebiet.

Im nördlichen Teil des Dorfes entstanden nach 1900 neue Viertel in der Schießgasse, Klaus und Butzbacher Straße und Langgasse. Im Ersten Weltkrieg wurde die Wasserleitung gelegt und viele Straßen wurden gepflastert. Vor den Toren Butzbachs wurden die Schuhfabrik Joutz und die Firma Rhodius in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts errichtet. Der Autobahnbau der 30er Jahre verschlang viel gutes Ackerland. Um die Wohnungsnot nach 1945 zu mildern, entstand für Heimatvertriebene Richtung Butzbach die Waldsiedlung. In der südwestlichen Gemarkung legte man einen Soldatenfriedhof für viele im März 1945 gefallene Deutsche an, deren Namen oft nicht bekannt war.

Die Aufnahme in das Dorferneuerungsprogramm brachte dem Ort Vorteile wie die Verlagerung einzelner landwirtschaftlicher Betriebe und Gebäude in die offene Feldgemarkung, die Förderung der Sanierung von Altbauten sowie den Straßenausbau im alten Ortskern, wo vor allem am Marktplatz ein neuer und attraktiver Mittelpunkt entstand. Durch die Verlagerung der B 3 aus der alten Ortsdurchfahrt hinaus wurde zwar der Ortskern vom Durchgangsverkehr entlastet, aber von der offenen Flur östlich des Ortes getrennt, so dass das Überqueren der B 3 mit Ausnahme des Kreisels und der Ampelanlage noch immer eine Gefahrenquelle für Verkehrsteilnehmer darstellt. Bei weitgehend gesicherter Grundversorgung (größerer Super- und Getränkemarkt, Bäcker und Metzger) ist dennoch die Schließung einiger Gastwirtschaften zu beklagen.

Der mit ca. 2500 Einwohnern größte Butzbacher Stadtteil hat sich auch nach der Gebietsreform sein Eigenleben als eine durch einige größere und lebensfähige landwirtschaftliche Betriebe geprägte bäuerliche Wohngemeinde mit einem ausgeprägten und lebendigen Vereinsleben bewahrt. Dies belegt auch der einzige heute noch wirklich bekannte Uznamen „Kähloff“ für Nieder-Weisel, dessen Bedeutung unklar ist. Manche sagen, die Nieder-Weiseler redeten immer, “sie hätten die Kehle offen“. Ob eine Ableitung von jiddisch „kelew“ im Sinne von „Hund“, bzw. „Schweinehund“ als Deutung in Frage kommt, bleibt sehr umstritten, zumal man den Nieder-Weiselern diese Eigenschaften nicht andichten kann.

(Aus der 11. Ausgabe der Seniorenzeitung vom September 2007)