Die Entstehung der Wizelere Marca

Erster Tag der Geschichte in Nieder Weisel war ein großer Erfolg

Trotz des sich schon ankündigenden schlechten Wetters hielt es am vergangenen Sonntag niemanden davon ab zu einem Geschichtsvortrag über Nieder Weisel in die altehrwürdige Pfarrkirche mit ihrem Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert und ihrem reich verzierten Innenraum aus dem 16. Jahrhundert zu kommen und am anschließenden Rundgang teilzunehmen. Weit über 40 Besucher fanden den Weg zum Vortragsort.

Der Ortsbeirat Nieder Weisel und der Geschichtsverein Butzbach und Umgebung e.V. hatten zu einem Vortrag über die Entstehung von Nieder Weisel in die evangelische Pfarrkirche eingeladen.

Nach einem ersten musikalischen Entrée durch Dorothée Hildebrand und David Göbler begrüßte der Ortsvorsteher Bernd Winter herzlich und humorvoll die Gäste im Namen des Ortsbeirates Nieder Weisel mit Stefan Zimmer und Sascha Huber und freute sich über das große Interesse, dass ein geschichtlicher Vortrag hier gefunden hatte. Der Vortrag, dem noch weitere folgen sollen, habe seinen Rahmen in den 1250- Jahr Feierlichkeiten von Nieder Weisel. Es folgte ein längeres Stück von Henry Purcell für Orgel und Trompete, das in der Kirche einen wunderbaren Klang entfaltete.

Vom Geschichtsverein Butzbach und Umgebung e.V., der diesen Geschichtstag erarbeitet hatte, begrüßte der Vorsitzende Hubert Meyer die Anwesenden und dankte allen Mitwirkenden für ihre große Arbeit und Teilnahme hieran und auch der Kirchengemeinde in Nieder Weisel ! Für den Geschichtsverein ist dieser Vortrag die Fortsetzung der Reihe „Lebendige Geschichte in den Dörfern Butzbachs“

Die Historikerin Gail Schunk hielt einen Vortrag, wie man ihn nur nach langen Erfahrungen mit Grabungen und intensiven Literaturstudium durchführen kann. Es ist ein stetes Anliegen von Frau Schunk, die Geschichte so lebendig zu zeichnen, dass ein Bild vor dem inneren Auge des Betrachters bezüglich der Landschaft und der Alltagssituation der Leute entsteht.

So war es auch hier:  Die „Wizelere Marca“ war im 3. Jahrhundert ein nur ungefähr definierter, mit viel Wald durchsetzter und schwach besiedelter Landstrich zwischen (mit heutigen Namen: ) Butzbach, Oppershofen (damals: Crüftel), Rockenberg, Ober Mörlen, der Taunus-Gebirgsrand und Hausen. Daher bezeichnen die ersten Urkunden von Nieder Weisel („Wizelare“) nicht als „Dorf“ oder „Siedlung“, sondern als „Landschaftsgebiet“ (= „Marca“). Die „Wizelere Marca“ war also bis in das 7. Und 8. Jahrhundert hinein das „Grenzland“ hinter dem damaligen Butzbach, eine riesige Fläche, durchsetzt von kleinen Siedlungen und Einzelgehöften. 

Der Historiker Wilhelm Braun vermutet, dass der Name „Weisel“ von „Wizelere“ = „Weißbach“ herrührt, von den weißtonhaltigen Böden im Bereich Nieder Weisels.

Im heutigen Butzbach siedelten sich die Nachfahren der Römer zuerst an. Für die Zeit um 233-260 n. Chr. Ist das nachgewiesen. Sie waren Nachfahren von Germanenstämmen. Die römischen Kastelle wurden zunehmend vernachlässigt und lösten sich dann ab dem 4. Jahrhundert endgültig auf.

Die Alemannen kamen im 3. Jahrhundert zuerst und siedelten im Bereich des heutigen Nieder Weisels im Bereich in „In den Herrengärten“ und um den „Tennisplatz“ herum an. Ein recht großes Dorf entstand. Ein herrschaftlicher Hof und weitere Gehöfte sind nachgewiesen worden.

Die Franken kamen etwa 300 Jahre später und siedelten sich im und um den heutigen Dorfkern Nieder Weisels herum (Ev. Pfarrkirche, Domgasse, etc.) an. Da das 6. Und 7. Jahrhundert ein regenreiches Jahrhundert war, bevorzugten sie höhergelegene Siedlungsplätze.

Nach und nach schälten sich die einzelnen Siedlungsorte im Bereich der „Wizelere Marca“ heraus und es entstanden die Orte bzw. Siedlungen „Fauerbach“, „Ostheim“, Münster, Bornhofen, Rödelheim, Westhausen, Reidelhofen, Hausen, Hochweisel und das heutige Nieder Weisel selbst (Maibach, Bodenrod und Weipersfelden entstanden erst einige Jahrhunderte später). Nur ein Teil dieser genannten Orte existiert heute noch.

Alle unsere Kenntnisse über die Existenz dieser Orte haben wir aus Urkunden des Klosters Lorsch, das 764 n. Chr. gegründet worden ist: In Urkunden wurden hier Herrschaftsgebiete festgestellt und Schenkungen (bzw. Übertragungen) festgehalten.

Im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert wurde die „Wizelere Marca“ allmählich geteilt und ein Hoch Weiseler und ein Nieder Weiseler Markungsgebiet entstanden: Aus „Schenkungsurkunden“ des Klosters Lorsch geht hervor, dass (nach Abtrennung des Ortes „Hausen“ im 7. Jahrhundert) zu der Hochweiseler Mark gehörten: Münster, Fauerbach, Felbach, Ostheim, Bornhofen, und Hoch Weisel selbst. 

Zur Nieder Weisler Mark gehörten nun die Orte Rödelheim, Westhausen, Hausen, Riedelhofen und das heutige Nieder Weisel selbst.

Durch eine „Schenkungsurkunde“ aus dem Jahre 844 im Kloster Lorsch wurde „im Dorf Wizelare“ beschrieben, eine herrschaftliche Hofstätte mit allen darauf errichteten Bauwerken, zwölf Hörigen Hofstätten und ebenso vielen Hofreiten, Wiesen mit einem Ertrag von 50 Fuder Heu und 22 Leibeigene. Damit ist für die Historikerin Schunk der Status von Nieder Weisel als eine dauerhafte, beständige Siedlung endgültig festgestellt. Die erste Steinkirche wurde um 700 errichtet. Skelettfunde gibt es aus dem 5. Jahrhundert.

Ausführlich ging Frau Schunk auch die Wasserversorgung und ihre Bedeutung für die Siedlungs-gründung und -entwicklung ein: In Urkunden des Klosters Lorsch ist daher zu lesen, dass auch Wasserplätze, Teiche und Flußläufe „verschenkt“ wurden.

Im Epilog ihres Vortrages stellte Frau Schunk zusammenfassend fest: Die damaligen Siedler, die nach „Nieder Weisel“ kamen, waren siedlungstechnisch gesehen spät dran und mussten sich mit „Restflächen“ im „Grenzland“ zufriedengeben. Denn das Dorf Butzbach und auch das Dorf Crüftel (zwischen Oppershofen und Rockenberg gelegen) existierten damals schon seit drei Jahrhunderten und beanspruchten Flächen. Ständig kam es zu Grenzstreitigkeiten, insbesondere mit Crüftel. Die neuen Siedler mussten also ihre „Claims“ erst erkämpfen. Aber die Nieder Weiseler setzten sich durch.

Die Vorsitzenden des Geschichtsvereins und des Ortsbeirates dankten der Referentin mit einem Präsent und einem Blumenstrauß und nach einer kurzen, durch den Ortsbeirat gesponserten Erfrischungspause ging es weiter mit dem zweiten Teil, dem von Helmut Hiltscher und Alfred Zitzwarek ausgearbeiteten geschichtlichen Rundgang.

Alfred Zitzwarek begann mit seinem Rundgang auf dem Marktplatz, wo er die historischen Gebäude erläuterte. Der Weg setzte sich fort zum Kirchenhinterhof, dem ältesten Bereich Nieder Weisels. Über die Butzbacherstraße, vorbei am ehemaligen „Adelshof“ ( = heute: Edelhof), dem ehemaligen Amtshof, durch die Domgasse zur Weingartenstraße und zum Judenfriedhof, zurück über die Hintergasse und Brunnengasse zum Marktplatz.

Dank der informationsreichen und unterhaltsamen Erzählweise von A. Zitzwarek blieben trotz Dauerregens nahezu alle bis zum Schluß dabei. Helmut Hiltscher kommentierte den gelungenen Nachmittag mit einem Wort von Gustav Flaubert, „dass die wirklich guten Geschichten immer wieder neu erzählt werden können. Sie langweilen nie“.

Alle Teilnehmer waren übereinstimmend der Meinung, dass so ein „Geschichtstag“ in Nieder Weisel gefehlt hat. Daher wird es noch bis Ende diesen Jahres in der Komturkirche eine Fortsetzung geben, wieder ein Nachmittag mit einem Fortsetzungsvortrag („Die Entwicklung von Nieder Weisel im Hochmittelalter“) und ein Rundgang durch einen anderen Teil von Nieder Weisel. Der Zeitpunkt wird noch in der Butzbacher Zeitung bekanntgegeben.

Bilder vom ersten Geschichtstag am 18.09.2022:
(Von Sascha Huber, Stefan Zimmer und Hubert Meyer)
Das Arbeitsteam des Geschichtsvereins Butzbach und Umgebung e.V.:
V.L..: Alfred Zitzwarek, Gail Schunk, Helmut Hiltscher, Hubert Meyer
Gut besucht war die Kirche
Der Ortsvorsteher Bernd Winter bedankt sich bei Frau Dorothée Hildebrand und ihren
Sohn David Göbler. Im Hintergrund historische Karten und Bilder von Reinhard Schaaf.
Einführende Worte von Alfred Zitzwarek zum Rundgang
Helmut Hiltscher und Alfred Zitzwarek (Mitte vorne) erzählen informationsreich.
Auf dem Marktplatz. Der Regen setzte gleich zu Beginn ein. Dennoch blieben die Leute.
Alfred Zitzwarek

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